Sonntag, 10. Januar 2010

Deutschlehrer



Hallo Robin, es gibt seltsame Zufälle. Gestern hat uns deine Mutter erzählt, dass dein Lehrer mit deinem Aufsatz über Erich Kästners Gedicht Die Sache mit den Klößen nicht einverstanden war. Heute brachte 3sat einen Beitrag  über  das Missverstehen im Deutschunterricht. Dummer Weise hatten sich die Programmmacher einfallen lassen, die ausgezeich­nete Vorlesung  der Professorin Inge Vinçon aus Heidelberg zwi­schen 6.45 Uhr  und 7:30 Uhr morgens zu senden, während ich aufstand, das Frühstück machte und die Zeitung lesen wollte, weswegen ich nur Bruchstücke der Einsich­ten der Frau Professor mitbe­kam.  Aber es ging darum, dass die Menschen einander dauernd missverstehen und dass es besonders ärgerlich  ist, wenn es ihnen im Deutschunterricht passiert. Denn, so Inge Vinçon: In der Deutschstunde sollen die Schüler lernen, ihr Sprachbewusstsein zu entwickeln und die Sprache differenziert anzu­wenden. Differenziert soll in diesem Zusammenhang wohl heißen, dass die Schüler lernen, möglichst genau auszudrücken, was sie sagen wollen.
Das ist goldrichtig, und Lehrer sollten es sich hinter die Ohren schreiben, was auch und gerade für Pädagogen in der Deutschen Schule in Rom gilt, vor denen ja nicht nur deutsche Kinder sitzen, sondern auch italienische und obendrein Zweisprachler wie du.
Statt dessen bestand die erste Einladung zum Missverständnis in deinem Fall wohl darin, dass ihr anhand des Kästner-Gedichts zeigen solltet, was ihr von Gegenständen und Formen der Ballade begriffen hattet. Die Sache mit den Klößen ist witzig und treffend, aber worauf es in einer Ballade ankommt, lässt sich an anderen Beispielen besser erklären, vor allem an Beispielen aus der Blütezeit der Gattung im 19. Jahrhundert. Wenn du wieder nach Hamburg kommst, werde ich dir ein Großes Deutsches Balladenbuch in die Hand drücken, und ich verspreche dir, dass du Spaß daran haben wirst. (Kästners  Klöße stehen allerdings nicht drin.)
Balladen erzählen in  Versen und Strophen Geschichten, und je aufregender die Geschichten sind, desto besser kommen sie beim Publikum an. Dafür hatten die Leute in alten Tagen zweifellos mehr Sinn als heute. Mittlerweile gehen sie eben lieber ins Kino oder setzen sich vor den Fernseher, als Verse zu genießen. Gestritten wurde vor ein paar Jahren sogar schon darüber, ob die Zeiten der Balladen nicht endgültig vorbei seien, und gemeint war, dass die Gattung mehr edle Leidenschaft verlange, als uns in unserer belämmerten Gegenwart zu Gesicht stehe. Das war auch so ein Missverständnis.
Tatsächlich können begabte Leute über vieles Balladen schreiben. Es ist nicht einmal ausgeschlossen, dass jemand eine Ballade über einen Deutschlehrer verfasst.
Mir fällt Dr. Friedrich Teichert ein, der uns in der Kieler Gelehrtenschule Deutsch und später auch Englisch beibrachte. Irgendwann – es kann 1938 gewesen sein, und ich war etwas jünger, als du jetzt bist – betrat er unsere Klasse mit Bücherstapeln unter beiden Armen. Er ließ die Bücher verteilen und nannte die Seite, die wir aufschlagen sollten. Um welches Gedicht es sich handelte, mit dem wir uns dann beschäftigten, weiß ich nicht mehr. Es wird aber ein gründlicher und interessanter Unterricht gewesen sein. Wenn Teichert über Literatur sprach, ging es meistens gründlich und interessant zu. Als es klingelte, wollten wir die Bücher zurückgeben, aber Teichert sagte, dass wir sie behalten sollten. Die Schulbibliothek brauche sie nicht mehr.
Es handelte sich um Theodor Echtermeyers Auswahl Deutscher Gedichte für höhere Schulen, erschienen im Jahre 1926. Inzwischen waren die Nazis an der Macht. Sie hatten viele der Dichter verboten, die bei Echtermeyer nachzulesen waren, und das war der Grund, warum Teichert uns die Bücher zusteckte. Die meisten von uns, ich selber eingeschlossen, haben wohl erst später begriffen, was er uns da schenkte.
Die Überschrift einer Ballade, die diese Geschichte erzählt, könnte Die List eines Lehrers in dummer Zeit lauten. Bei mir hat sie, die List, Erfolg gehabt. Der Echtermeyer steht heute noch im Bord. Er hat einen neuen Einband, aber es ist die Ausgabe von 1926, und es sind Lehrer wie Dr. Teichert, die ich meinen Enkeln wünsche, sofern sie die Schule noch nicht aufatmend hinter sich gelassen haben.
Halt die Ohren steif, lieber Robin
Dein Großvater
Ps.: Zu welcher pädagogischen Gattung Herr Lämpel gehört, dessen Konterfei ich mir von Wilhelm Busch geliehen habe, um es oben auf diese Seite zu stellen, sollten wir gelegentlich erörtern. Leider gibt es ja auch böse Buben und schlimme Mädchen, die ihre Lehrer zur Verzweiflung treiben. 

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