Samstag, 16. Januar 2010

Konrad Reich


Mit Bedauern, weil wir uns länger als sieben Jahre nicht gesehen hatten, habe ich vor drei Tagen an ihn gedacht. Da war er schon tot, aber ich wusste es nicht. Die Nachricht stand erst heute im Morgenblatt:  27 Zeilen im Feuilleton, Überschrift: Hinstorffs Gesicht.  Das Gesicht des Rostocker Verlags Hinstorff war Konrad Reich in der Tat gewesen, und zwar weit über den Tag hinaus, an dem unser Altersgenosse Harry Tisch ihn dort vom Schreibtisch gejagt hatte – Harry Tisch, der gelernte Bauschlosser und SED-Multifunktionär, der seinerzeit im Lande Meckpom viel zu sagen hatte. 
Darüber, dass die beiden nicht mehr miteinander klargekommen waren, konnte sich niemand wundern, der sie einmal beim gemeinsamen Auftritt erlebt hatte. Harry Tisch  war ein gerissener Machthaber mit Clownsgesicht; Konrad Reich war eine sogenannte blendende Erscheinung und hatte es ebenfalls hinter den Ohren, dies aber auf die feine Art. Jemand wie Harry Tisch konnte so etwas auf die   Dauer    nicht aushalten.
„Was ist eigentlich so verschieden an uns und unserer Situation?“, fragte Konrad Reich eines schönen Tages bei Kaffee und Köm während der Leipziger Buchmesse. Er meinte nicht Harry Tisch, sondern mich. Ich hatte ihm mit einer Bemerkung  über meine Situation in der Zeitung, in der ich die Literaturseiten machte, die Vorlage geliefert. Mein Verleger hatte mich wissen lassen, dass er über die Literatur und das Blattmachen anders dachte als ich, und das Ende meiner Tätigkeit in seinem Hause war abzusehen. Ich versuchte meinem Freund Konny, den Unterschied, nach dem er gefragt hatte, zu erklären. Zwischen meiner Haustür in Hamburg und seiner Haustür in Rostock lagen gut 200 Kilometer, und wenn ich mich zu ihm auf den Weg machte, überquerte ich nach 40 Kilometern bei Lauenburg/Elbe eine Grenze, hinter der ganz andere Rechtszustände herrschten, die mir nicht gefielen, von Machtverhältnissen ganz zu schweigen.
„Du musst die herrschenden Verhältnisse beherrschen“, sagte Konny. Ob die Weisheit auf seinem Mist gewachsen war, oder ob er einen gescheiten Mitmenschen zitierte, weiß ich nicht – die Antwort  passte.
Konrad Reich beherrschte die DDR-Verhältnisse insofern, als er auch ohne  Verlags-Chefsessel derselbe blieb und als Herausgeber und Autor den Markt mit Büchern von bestechender Qualität bereicherte. Der Hinstorff-Verlag, in dem der kreative Büchermacher gemeinsam mit dem nicht minder kreativen Lektor Kurt Batt Schriftsteller wie Erich Arendt, Jurek Becker, Franz Fühmann und Klaus Schlesinger versammelt hatte, zog sich unterdessen auf Wunsch der Obrigkeit wieder aufs Regionale zurück.
Als die DDR in den letzten Zügen lag, stand Konny unverhofft in meinem Büro im NDR an der Hamburger Rothenbaumchaussee. Es könne doch nett werden, sagte er, wenn wir uns ein paar Minuten zusammen vors Mikrophon setzten. Über die Wiedervereinigung werde er allerdings kein Wort verlieren. Ich warf das Programm um, und wir lieferten zusammen eine der Sendungen ab, auf die ich bis heute stolz bin. Über die Meinungsverschiedenheit, ob Deutschland vereint werden oder ob es bei zwei Deutschlands bleiben solle, verloren wir verabredungsgemäß kein Wort. Wir brauchten die Frage nicht.
Drei Jahre später, im August 1992, waren wir mit unseren Frauen und einem befreundeten Paar aus der Branche in Rostock verabredet. Konny hatte in der Altstadt eine Qualitätsbuchhandlung eröffnet, aber die Konkurrenz aus dem Westen machte ihm das Leben sauer. Er überlegte, ob er einen eigenen Verlag gründen solle. Nicht weniger Sorgen machte ihm die Entwicklung der Dinge vor der Tür. Im Rostocker Stadtteil Lichtenhagen tobte der Mob gegen Ausländer.
Vor dem rassistischen Pöbel wichen wir in ein nobles Restaurant in Graal-Müritz aus. Der Abend hatte auch sonst seine hintergründigen Augenblicke. Einen davon löste eine der Frauen mit der Frage aus, wie Konny und ich unsere Freundschaft zu DDR-Zeiten gehandhabt hatten. Ich sagte, dass ich  immer  vermutet habe, dass der Reisekader Konrad Reich zu Hause interessierten  Stellen über unsere Begegnungen berichten müsse. Ebenso sei ich überzeugt gewesen, dass er Markus Wolfs Mannen schon etwas Passendes erzählen werde. Konny lächelte, er war einverstanden mit der Antwort.
Die Verhältnisse im wiedervereinigten Deutschland hat Konrad Reich nie in dem Mäße beherrscht, in dem er die Verhältnisse in der DDR gemeistert hat. Ich hätte es ihm gegönnt.
jn, 16. Januar 2010                                                                                                                                             Foto: Ostsee-Zeitung

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