Montag, 11. April 2011

Draußen vor der Tür – zweimal

Hans Quest als Heimkehrer Beckmann – ein Foto mit seinen Altersspuren aus 65 Jahren. Die Theaterfotografin Rosemarie Clausen, eine der Besten in ihrem Fach, hat im Herbst 1947 nicht nur den Schauspieler Hans Quest in der Rolle des Unteroffiziers Beckmann fotografiert, sie porträtierte eine Generation, die Fragen an die Älteren stellte und keine Antworten bekam. Zum Beispiel die Frage nach der Verantwortung im Fall eines sogenannten Befehlsnotstands. In der kurzen Epoche zwischen dem Kriegsende und der Währungsreform unterschieden sich die Deutschen durch unterschiedlich entwickelte Schwielen am Gewissen, und die Antwort auf die Frage, wer wie lange in Hitlers Wehrmacht dabeigewesen war, fiel ins Gewicht. Dabei gewesen zu sein, hieß, Täter gewesen zu sein.
2011
Der alte Guckkasten dröhnt vom Lärm der Band My Darkest Star. Ich warte darauf, dass die Baupolizei an der Rampe erscheint und die Veranstaltung wegen Einsturzgefahr für das Gebäude schließt. Doch der Lärm darf weiter ungehemmt das Haus erzittern lassen und mein zentrales Nervensystem malträtieren. Ich will die Stöpsel in die Ohren stecken, die mir eine fürsorgliche junge Dame, mein Alter im Blick, beim Eintritt überreicht hat. Im Dunkeln fallen mir die Dinger prompt aus der Hand, und ich benutze zwecks Lärmdäm-mung meine Fingerspitzen. Unterdessen toben, wie angekündigt, junge Leute mit Down-Syndrom über die Drehbühne, und Felix Knopp, einer der drei Hauptdarsteller, rennt schier unaufhörlich vor ihnen weg. Im Kreis, versteht sich, was besonders gut in den Riesenspiegeln zu beobachten ist, welche die geniale Bühnenbildnerin Katrin Brack schräg über die Spielfläche gehängt hat.

Andere Zeit, anderer Anspruch: Programmheft mit DVD
© jn-foto

Beckmann winselt. Beckmann schreit. Beckmann tobt über die Bühne. Beckmann windet sich auf dem Bühnenbrettern. Alles Elend der Welt hat ihn beim Kragen. Und My Darkest Star rockt, was das Zeug hält. Die Jungs können den Lärm allerdings auch leiser. Das Ganze einhundertvierzig Minuten lang. Das meiste vom Text versteht nur, wer ihn von zu Hause mitbringt. Was gesagt wird, übernehmen in neuer, ziemlich willkürlicher Aufteilung drei Mitwirkende: rockend am Mikrophon Felix Knopp als Beckmann, die auch hier souveräne Barbara Nüsse in fast allen weiteren Rollen, abgesehen von denen, die Peter Maertens als eine Art Hilfskraft beiträgt, wobei er rätselhafter Weise die Gasmaskenbrille auf der Nase trägt, die bis dato Beckmanns Markenzeichen war.
Was da passiert? Der Regisseur Luk Perceval inszeniert auf seine Weise den berühmten Schrei des Heimkehrers Beckmann. Den Schrei des Ex-Unteroffiziers und Heimkehrers aus dreijähriger Kriegsgefangenschaft, dem zu Hause alles schief geht – selbst der Versuch, den in Russland verpassten Tod in der nassen Elbe suchen. Die Elbe legt ihn einigermaßen lebendig am Strand vor Blankenese ab, und Beckmann bricht auf zu neuen Niederlagen. Wie womöglich aus dem Deutschunterricht erinnerlich: In der berühmtesten Szene platzt Beckmann seinem ehemaligen Oberst ins wohlsituierte Nachkriegsleben. Der Oberst hat ihn, Beckmann, seinerzeit mit einem Stoßtrupp in einen Wald bei irgendeinem russischen Gorodok geschickt hat. Dabei sind elf von Beckmanns Leuten umgekommen. Er, der Oberst, übertrage ihm, Beckmann, die Verantwortung, hat der Oberst seinem Unteroffizier auf den auf den Einsatz mitgegeben. Jetzt will Beckmann dem Oberst die Verantwortung zurückerstatten, aber der Oberst begreift nicht, was Beckmann von ihm will.

1947
Vor 64 Jahren bei der Uraufführung in Ida Ehres Kammerspielen war alles anders als heute bei Perceval. Es gab auf der Bühne nicht nur drei Mitwirkende, sondern ­– wie vom Dichter vorgesehen – fünfzehn, und die Darsteller nahmen ernst, was im Buch stand. Dass dem Autor das wortreiche Pathos selber nicht geheuer war, störte sie nicht. Er lag im fernen Basel mit seinem 26 Jahren wegen kaputter Atemwege auf dem Sterbebett und vertraute einem Journalisten an, sein Stück sei „nur ein Plakat“, und morgen drehe sich keiner mehr nach der Geschichte um. Die Dramaturgie des NWDR, des Vorläufers der Sender NDR und WDR, war anderer Meinung, und sie war es, die recht behalten sollte. Damals im Februar 1947 hungerten wir nach Worten, die auf unsere Existenz passten. Das Hörspiel Draußen vor der Tür schien genau zu passen. Es lief am 13.Februar 1947 zur besten Sendezeit im Radio und hatte enormen Erfolg.
Programmzettel 1947...
                    jn.Archiv (3)
Daraufhin fand Ida Ehre, die Prinzipalin der Kammerspiele, das Stück gehöre aufs Theater. Die Überlebende der Schoah, groß im Überreden von Leuten, nahm den Regisseur Wolfgang Liebeneiner bei der Hand, suchte mit ihm den kranken Dichter Borchert auf und schwatzte ihm die Theaterrechte ab. Der Begleiter Liebeneiner funktionierte bei der Visite quasi als Botschafter der Versöhnung der Deutschen mit den Deutschen. Hatte er doch im Auftrag von Hitlers Propaganda-minister Joseph Goebbels nicht nur wirklich lustige Komödien für die Lein-wand inszeniert, sondern auch zwei Bismarck-Filme, die den Eisernen  Kanzler als Vorläufer des den Deutschen zugelaufe-nen Führers feierten – und obendrein einen perfiden Streifen, der die Euthanasie als Wohltat der Vernunft darstellte. Als Dritter im Versöhnungsprojekt spielte dann in Liebeneiners Inszenierung Erwin Geschonnek den Kabarettdirektor, der Beckmann nicht auf die Bühne lassen will. Der Dritte im Bunde war der Kommunist Geschonnek deswegen, weil ihn das sowjetische NKWD 1939 an die Gestapo ausgeliefert hatte. Bei Kriegsende war er einer der Häftlinge im KZ Neuengamme gewesen, die die SS auf die Cap Arcona verschleppte, auf eins von vier Schiffen in der Lübecker Bucht, die die Alliierten dann bombardieren, weil sie auf ihnen Nazis auf der Flucht nach Skandinavien vermuteten. – Jeder auf der Bühne hatte seinen Teil an der Zeitgeschichte, und zusammen spielten sie Draußen vor der Tür, das Stück des in Basel sterbenden Wolfgang Borchert.
...4 Seiten im Format...
Zeitgenossen mit diversen Schicksalen spielten das Stück virtuos vom Blatt, was nicht verhinderte, dass der hochtrabende Ton einigen Kritikern entsetzlich auf die Nerven gehen sollte, zum Beispiel dem allseits verehrten Friedrich Luft, dem Rezensenten der amerikanischen Neuen Zeitung, oder Fritz Erpenbeck, der das Stück in seltener Eintracht mit dem Kollegen im Westen im sowjetisch lizensierten Theater der Zeit verriss. Wir anderen, ich gestehe es, erlagen Borcherts Pathos. Erlagen wir ihm? Ich geniere mich deswegen bis heute nicht. Es war unser Pathos, das einer neuen, allem Anschein nach verlorenen Generation – und wir sahen eine hinreißende Aufführung.
Ich habe immer behauptet, dass ich mir Gesichter dieser Inszenierung jeder Zeit vor Augen rufen könne. Selbstverständ-lich das Gesicht Hans Quests mit Beckmanns Gasmasken-Behelfsbrille auf der Nase, aber nicht nur seins. Auch das Gesicht Hermann Lenschaus etwa, der den Trottel von einem Gottvater, mit dem Beckmann haderte,  mit kluger Zurückhaltung spielte. Das Gesicht Hermann Schombergs, der sich in die Gestalt des verfressenen Todes, der auf Beckmann nicht angewiesen war, mit spürbarem Genuss gefunden hatte. Oder das Gesicht Erwin Geschonnecks, der als Theaterbesitzer den armen Beckmann mit arrogantem Desinteresse vor die Tür setzte.
... 7,5 x 10,5 cm

Mag sein, dass ich diese Gesichter auch im Kopf behalten habe, weil sie auf den Bühnen präsent blieben. Ihre anderen Auftritte aber habe ich früher oder später mit wenigen Ausnahmen vergessen, oder ich musste sie immer aufs neue mühsam rekonstruieren. Ihre Gesichter in die-serAufführung nicht. Nur über einen weiteren wichtigen Mitwirkenden war ich mir nicht im Klaren. Im Film Liebe 47, zu dem Liebeneiner dann Borcherts Drama umarbeitete, hatte Paul Hoffmann den Oberst gespielt, ein fürs Kino geborener Schauspieler, der für meinen Geschmack immer einen Tick zu schön und zu smart war. Durch meine Erinnerung geisterte beharrlich ein anderer Typ, kein schmalbrüstiger Vetter des Harras aus Zuckmayers Teufels General, sondern eher ein Blockwart oder sonst ein Bonze der NSDAP, rundlich und tückisch und mit Hitler-Schnauz unter Nase, wie diese Kerle in ihren Goldfasan-Uniformen gewesen waren. Nach langer Zeit habe ich den Mann jetzt auf Fotos Rosemarie Clausens von der Uraufführung des Stücks wiederentdeckt. Der Schnauz war ein Oberlippenbart, der sich von Mundwinkel zu Mundwinkel zog. Sonst stimmten die Fotos mit den Bildern überein, die ich im Kopf bewahrt hatte. Soviel als Hilfsbeweis, dass es Theater gibt, das unsereiner nicht vergisst.
Die Aufführung von Draußen vor der Tür im November 1947, ich sah die dritte oder die vierte Vorstellung, war ein Ereignis, das dazu taugte, die Seele umzukrempeln. Um es so persönlich wie nur möglich zu sagen: Die Schwächen des Stückes ebenso beiseite wie die Vorbehalte gegen den Regisseur – Borchert und Liebeneiner haben mir einen Theaterabend beschert,  an den in den Jahrzehnten seither nur die besten heranreichten. Luk Perceval und seine Mitwirkenden sehen es mir hoffentlich nach: Bei dieser Sicht bleibt es auch diesmal.

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